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Adipositas-Trends, Medikamente dagegen und die Zukunft der Nierenversorgung

Benjamin Hippen, MD, FASN, FAST

Benjamin Hippen,
MD, FASN, FAST

Wir wollen Patienten, Regulierungsbehörden, Kostenträger und die Öffentlich auf eine Zukunft der Epidemiologie mit GLP-1A vorbereiten.

Vor wenigen Wochen berichtete die New York Times über eine kürzlich in der Zeitschrift Lancet veröffentlichte Studie, in der Prognosen zu Übergewichts- (Body-Mass-Index oder BMI ≥ 25 kg/m2) und Adipositas-Quoten (BMI ≥ 30 kg/m2) angestellt wurden, wonach bis 2050 ein Drittel der Jugendlichen und etwa zwei Drittel der Erwachsenen im Alter von 25 Jahren oder älter (etwa 213 Millionen Erwachsene) an Übergewicht oder Adipositas leiden werden. Die treibenden Kräfte für diese alarmierende Tendenz sind vielschichtig und werden durch die bekannten Einschränkungen des BMI als Maß, das eigentlich zuverlässig zukünftige Risiken von Komorbidität und Tod von normalen Variationen der Körpermorphologie unterscheiden soll noch verstärkt. Dies erhält eine zusätzliche Einfärbung durch die allgegenwärtige Geißel des “Fat Shaming” die eine nüchterne empirische Analyse und eine patientenorientierte Diagnose und Behandlung einer Erkrankung erschwert, welche tatsächlich zukünftige Gesundheitsrisiken birgt, anstatt ein dauerhaftes Vorurteil aufrechtzuerhalten, das die Bereitstellung einer soliden medizinischen Versorgung aktiv behindert.

Unsere Messgrößen für Adipositas sind zu einfach gestrickt und diese übermäßige Vereinfachung hat eindeutig einen sozialen Preis, der eines prüfenden Blickes bedarf. Da jedoch die Gesamtprävalenz von Übergewicht und Adipositas erheblich zunimmt und sich ein Teil dieses Anstiegs der Häufigkeit von Adipositas in zukünftigen Risiken für adipositasbedingte Gesundheitskomplikationen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronische Nierenerkrankungen niederschlägt, scheint ein Punkt klar zu sein: In Ermangelung systemischer und drastischer (gar drakonischer) Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, um „riskante“ Adipositas einzudämmen, ist es unwahrscheinlich, dass adipositasbedingte Komplikationen wie Diabetes und chronische Nierenerkrankungen als wachsende Herausforderung für die öffentliche Gesundheit verschwinden werden.

Daher erregen Glucagon-Like-Peptide-1-Agonisten (GLP-1A) wie Semaglutid und Tirzepatid aus gutem Grund jede Menge Aufmerksamkeit. GLP-1A zeigten einen signifikanten Gewichtsverlust und eine Reduktion der Herzinfarkt- und Schlaganfallraten. Die jüngsten Ergebnisse der FLOW-Studie und der SELECT-Studie machen richtigerweise weiter auf das Versprechen von GLP-1A und deren Auswirkungen auf die Verbesserung der Lebensqualität und -dauer von Patienten mit chronischer Nierenerkrankung aufmerksam.

Benjamin Hippen

Wir Nephrologen sind begeistert von diesen Medikamenten und davon, was sie für unsere Patienten bewirken können. Gleichzeitig möchten wir aber auch die Gelegenheit nutzen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einige Fakten über Nierenerkrankungen sowie den Zusammenhang zwischen chronischer Nierenerkrankung (CNK) und Terminaler Niereninsuffizienz (TNI) zu lenken, deren Behandlung eine Dialyse oder Transplantation erforderlich macht. Für uns stellt sich die Zukunft anders dar, als sie manche vorhersagen. Unser Ziel ist es, Patienten, Regulierungsbehörden, Kostenträger und die breite Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, was die Zukunft mit dem Einzug von GLP-1A für die Epidemiologie von Nierenerkrankungen bereithalten könnte.

Benjamin Hippen

MD, FASN, FAST

In den USA leiden derzeit 30 Millionen Patienten an CNK und nur 500.000 Patienten an TNI. Dieses Ungleichgewicht ist darauf zurückzuführen, dass die überwiegende Mehrheit der CNK-Patienten verstirbt (meist kardiovaskulär bedingt), bevor sich eine TNI entwickelt. Therapien, die das Fortschreiten der CNK verlangsamen, verbessern in der Regel auch die kardiovaskuläre Mortalität. Daher kann ein Patient mit CNK, der eines dieser Medikamente einnimmt, einen vorzeitigen kardiovaskulären Tod vermeiden und das Fortschreiten der chronischen Nierenerkrankung verlangsamen.

In einer Welt, in der viele der 30 Millionen CNK-Patienten in den USA eines oder mehrere dieser Medikamente einnehmen, würde die Zahl der derzeitigen Dialysepatienten um mehr als 50 % steigen, wenn nur 1 % dieser CNK-Patienten einen kardiovaskulären Tod vermeidet und lange genug lebt, um eine TNI zu entwickeln. Wenn die Zahl der übergewichtigen und adipösen Erwachsenen in den USA auf > 200 Millionen steigt und unter Jugendlichen ähnliche Tendenzen vorherrschen, könnten die nachgelagerten zukünftigen Schätzungen von Personen mit Adipositas und CNK wesentlich höher ausfallen. Unsere Infrastruktur im Bereich der öffentlichen Gesundheit muss darauf vorbereitet sein, die medizinischen Bedürfnisse von mehr Patienten mit fortgeschrittener Nierenerkrankung zu erfüllen und Strategien einschließen, die an prominenter Stelle erweiterten Zugang zu allen Arten des Organersatzes wie Transplantation oder Dialyse einschließen sollten.

Zwei Studien zu Semaglutid in verschiedenen Patientenpopulationen mit CNK, die FLOW-Studie und die SELECT-Studie, geben zusätzlich Aufschluss über die Auswirkungen dieser Medikamente auf die CNK- und TNI-Populationen Die FLOW-Studie untersuchte die Auswirkungen von Semaglutid bei Patienten mit fortgeschrittener CNK und hohem Risiko sowohl für kardiovaskuläre Mortalität als auch für ein schnelles Fortschreiten der CNK zur TNI innerhalb von zwei Jahren. Im Rahmen dieser Studie sank die kardiovaskuläre Mortalität von 9,6 % in der Placebo-Gruppe auf 7,0 % in der Semaglutid-Gruppe. Hinsichtlich des Fortschreitens der Nierenerkrankung verringerte Semaglutid nierenspezifische Ereignisse von 14,4 % in der Placebo-Gruppe auf 12,0 % in der Behandlungsgruppe. Während die absoluten Zahlen oberflächlich betrachtet klein erscheinen und den Punkt unterstreichen, dass GLP-1A-Medikamente das Fortschreiten der CNK verlangsamen, aber CNK nicht „heilen“ können, ist Semaglutid eine willkommene und wichtige Ergänzung zu den ansonsten stagnierenden Therapiemöglichkeiten für wirksame Medikamente, um das Fortschreiten der CNK zu reduzieren.

In vielen Fällen setzen die nachgewiesenen Vorteile der GLP-1A voraus, dass Patienten auch Medikamente einnehmen, die bereits nachweislich das Fortschreiten der Nierenerkrankung reduzieren. In klinischen Studien, die eine Verbesserung der Nierenergebnisse durch diese neuen Medikamente zeigen, mussten die Patienten auch eine bekannte Klasse von Medikamenten einnehmen, die zusammen als Renin-Angiotensin-Aldosteron-System-(RAAS)-Hemmer bezeichnet werden. RAAS-Hemmer sind seit drei Jahrzehnten auf dem Markt und eine überzeugende Evidenzbasis belegt deren Wirksamkeit bei der Verringerung der kardiovaskulären Mortalität und des Fortschreitens von Nierenerkrankungen, insbesondere bei diabetischer Nierenerkrankung. Aber weniger als 50 Prozent der Patienten, die diese kostengünstigen und wirksamen Medikamente einnehmen sollten, bekommen sie verordnet. Selbst bei nicht gesetzlich Krankenversicherten liegt die Abbruchrate bei RAAS-Hemmern bei über 50 Prozent. Diese Medikamente wirken nicht, wenn die Patienten sie nicht bekommen oder sie nicht über einen längeren Zeitraum einnehmen.

Ferner gibt es einen auffälligen Prozentsatz von Patienten, denen GLP-1A-Medikamente verordnet werden und die diese kurz nach der Verordnung absetzen. Eine aktuelle Studie einer „pharmacy benefits firm“ ergab, dass weniger als 25 % der Patienten, denen Ozempic oder Wegovy zur Gewichtsreduktion verordnet wurde, die Medikamente zwei Jahre später noch einnahmen. (Ältere GLP-1A-Medikamente schnitten mit < 10 % Adhärenz nach zwei Jahren noch schlechter ab.) Wenn die Mehrheit der Patienten mit einer Verschreibung dieser Medikamente diese tatsächlich nach ein oder zwei Jahren absetzt, und in Anbetracht des weithin bekannten Phänomens der erneuten Gewichtszunahme nach dem Absetzen dieser Medikamente, müssen wir uns fragen, ob Patienten, welche die Einnahme dieser Medikamente beginnen und wieder abbrechen, überhaupt langfristige gesundheitliche Vorteile erzielen. Schließlich kann das Phänomen des „Jojo-Effekts“ (definiert als Verlust und Wiederzunahme von ≥ 10 % des Gesamtkörpergewichts) tatsächlich das Risiko für neu auftretenden Bluthochdruck und Diabetes erhöhen, eine Feststellung, die auf eine anhaltende Verringerung der Ruhestoffwechselrate nach signifikantem Gewichtsverlust zurückgeführt werden könnte. Langzeituntersuchungen von Kandidaten einer Reality-Fernsehshow, die sich um extremen Gewichtsverlust drehte, veranschaulichen einen komplexen Zusammenhang zwischen starker Kalorienreduktion, hoher körperlicher Aktivität und Neigung zur Gewichtszunahme. In diesen Fällen führten drastische Gewichtsverluste zu Stoffwechselanpassungen, wodurch sich die Ruhestoffwechselrate anhaltend verringerte. Eine erwartete Zunahme der Ruhestoffwechselrate nach Gewichtsverlust trat nicht ein, sodass eine sehr geringe Kalorienzufuhr erforderlich war, um einen anhaltend niedrigeren Ruhestoffwechsel auszugleichen. Einige (aber nicht alle) Kandidaten hatten eine auffällige Neigung zur Gewichtszunahme, selbst bei anhaltend hoher körperlicher Aktivität und diejenigen, die ihr Gewicht hielten, mussten ein Höchstmaß an körperlicher Aktivität beibehalten. Die Auswirkungen des Jojo-Effekts wurden im Zeitalter der GLP-1A-Medikamente nicht systematisch untersucht, und möglicherweise verläuft der Zyklus von Gewichtsverlust und -zunahme nach dem Absetzen von GLP-1A anders. Vielleicht bleibt die Änderung der Ruhestoffwechselrate nach dem Absetzen von GLP-1A ein gängiges Problem, vielleicht aber auch nicht. Aber bis wir dies wirklich wissen, müssen wir uns die Möglichkeit vor Augen führen, dass die Anwendung von GLP-1A unter realen Bedingungen mitunter nicht uneingeschränkte Vorteile für die öffentliche Gesundheit mit sich bringt.

Vielleicht besteht die Hoffnung darin, dass früher einsetzende, voll skalierte Interventionen bei Adipositas-Patienten die Häufigkeit von Typ-2-Diabetes und seinen nachgelagerten Komplikationen, einschließlich chronischer Nierenerkrankungen, abmildern werden. Vielleicht.
Eine aktuelle Studie mit Tirzepatid zur Abmilderung von neu auftretendem insulinresistenten Diabetes zeigte beeindruckende kurzfristige Ergebnisse, auch nachdem das Medikament 4–5 Monate lang abgesetzt wurde. Wir wissen aber auch, dass es sich bei den am schnellsten wachsenden Kohorten von Patienten mit einem hohen Body-Mass-Index (BMI) um Patienten handelt, die als „adipös“ (BMI 30–35 kg/m2) und „stark adipös“ (BMI > 35 kg/m2) eingestuft werden. Ein erheblicher Gewichtsverlust kann dazu führen, dass mehr stark adipöse Patienten nur noch „adipös“ und adipöse Menschen nur noch übergewichtig sind. Dies verringert die nachgelagerte Morbidität und Mortalität, beseitigt sie jedoch nicht. Die DiRECT-Studie in Großbritannien, bei der ein diät-basiertes Gewichtsabnahmeprogramm bei Patienten mit Typ-2-Diabetes verordnet wurde, ergab, dass nach dem Verlust von mehr als 35 Pfund in einem Jahr 86 Prozent der Patienten keine Diabetesmedikamente mehr benötigten. Davon allerdings benötigten nach zwei Jahren nur noch 70 Prozent keine Medikamente, auch wenn sie ihr Gewicht gehalten hatten.. Bei manchen wird eine vorherige Insulinresistenz mit anhaltender Gewichtsabnahme nicht einfach „ausgeschaltet“. Wie bei den „konkurrierenden klinischen Endpunkten“ Tod und Nierenversagen könnten wir es stattdessen mit einer Population von Patienten zu tun haben, die andernfalls an Komplikationen im Zusammenhang mit Adipositas gestorben wären, jetzt aber länger leben und andere Krankheiten, darunter Nierenversagen, entwickeln und erleben.

Kurz gesagt: Diese neuen GLP-1A-Medikamente versprechen Millionen von Menschen, vorzeitige Morbidität und Tod zu vermeiden, aber wie so oft tauschen wir vielleicht nur einen positiven Nutzen für die öffentliche Gesundheit (verringerte kardiovaskuläre Mortalität, verringertes Fortschreiten von CNK) gegen andere unbeabsichtigte Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit ein (unzureichende politische Aufmerksamkeit für die Ursachen „riskanter“ Adipositas, Komplikationen des Jojo-Effekts, mehr Patienten, die lange genug überleben, um eine CNK oder TNI zu entwickeln). Wir bei Fresenius Medical Care hoffen, dass die Aufmerksamkeit für diese neuen Medikamente für die Notwendigkeit einer früheren Erkennung von Nierenerkrankungen sensibilisiert, die Wichtigkeit der Verordnung und der anhaltenden Einnahme erschwinglicher und wirksamer RAAS-Hemmer unterstreicht, sowie politischen Entscheidungsträgern, Regulierungsbehörden und der Gesellschaft verdeutlicht, dass es sich beim Kampf gegen Nierenerkrankungen um eine mehrgleisige, langfristige Initiative für die öffentliche Gesundheit handeln muss.

 

Publikationsdatum: Dezember 2024

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